"Menetekel an der Wand"

Schuldgefühl in der Kunst - Kunst als Geständnis 
(Dieser Titel entspricht dem Titel eines Zeitungs-Artikels über meine Arbeit vor ein paar Jahren.)
Mary-Noële Dupuis - 2003

Raskolnikov - der Held von "Mord und Sühne" von Dostoievski -  sagt seiner Mutter, 
die ihn kurze Zeit nach dem Mord besucht: "Wir werden schon Zeit haben uns auszusprechen." 
Nachdem er dies gesagt hatte, wurde er wieder verlegen und erbleichte, "wieder durchzog eine 
kurze Empfindung in toter Kälte seine Seele, wieder wurde es ihm vollkommen klar, dass er soeben 
eine furchtbare Lüge gesagt hatte, dass er nie wieder sich aussprechen könne, dass er nie mehr, 
niemals mehr und mit niemanden überhaupt sprechen könne."
In "Totem und Tabu" drängt Freud auf die "affektive Ambivalenz": von einer Seite,
die Befriedigung Verbote zu übertreten, von einer anderen Seite, die Furcht das zu machen.
In der Zwangneurose, ist die Angst das zu machen stärker als das Begehren. Der junge und
triumphierende Held - Gott oder halb-Gott - Ödipus erfüllt das glühende Begehren der Kindheit:
den Vater umbringen und die Mutter heiraten; aber seine Übeltat mündet automatisch  in Bestrafung.
Die Erfüllung dieses Begehrens - das aus der Kindheit der Menschheit kommt - trägt mit ihr die
Spur des Strafebedürfnis - als Rückwirkung auf diese Tendenz.
Die Geschichte der Kultur lehrt uns, dass die meisten Künste eng mit dem Mythos verbunden sind;
die Kunst, die ursprünglich zu magischen Zwecken diente, bildet einen sehr wirksamen Ersatz für
das unbefriedigte Begehren der Menschheit, und entgeht auch nicht dem Geständniszwang.
Jeder legt großen Wert darauf, von Sachen die ihm sehr viel bedeuten, Sachen die er stark begehrt,
zu sprechen. Wenn das nicht der Fall wäre, wozu sich ausdrücken?
Die Kunst als Ventil, und durch einen permanenten Druck - eine Not-Situation  - hat sie
die Funktion, die Libido zu regulieren. Aber, durch ihre Aufgabe Grenzen zu überschreiten  - und
paradoxerweise - von einer Seite - durch ihren "heiligen" und - von ein anderen Seite - fremd,
bedrohlich, unreinen Charakter, berührt man da an einen Tabu-Ort, der nie unschuldig ist.
Unabhängig von dem "Motiv", in der Kunst "Thema" genannt -  wird man damit auf die Spur eines
Delikts geworfen; Der Künstler als "Täter", gespalten zwischen Verbrecher und Kommissar - gedrängt
Kunst zu machen, um sich zu äußern: zu seiner "Schuld", dem schlechten Gewissen: der verdrängten
Bosheit, dem Todestrieb. In jedem Fall gilt es, seine Konfrontation mit dem Bösen zu klären, und
er wird immer wieder dieses Verhältnis durch seine Produktion berühren.

Immer wieder auf der Spur seines eigenen "Falls". Tatort: Kunst. Kunst als "Indiz" einer Untat.
Auch wenn diese "Indizien" Zeichen sind, sind sie kein "Beweiß". Werden auch der Künstler selbst
oder die Kunstkritiker sich Mühe geben, zu einem "Bild" des "Täters" zu kommen - es ist immer,
wie hinter seinem eigenen Schatten herzurennen - mit dem Ziel den Täter auf frischer Tat ertappen.
Alibis sind auch dabei, aber es fehlt die Leiche. Doch man weiß sowieso - und er weiß es auch,
ohne genau zu wissen, worum es geht - dass er schuldig ist. Es kann nicht anders sein.
Die banalen Objekte - Accessoires  - transformieren sich in Beweisstücke. Und dazu ist noch der
schlimmste Feind des Täters in seiner Hand. Bezogen auf dem Corpus delicti, fängt er an, eine lange
und verdrehte Geschichte zu "basteln", um zu versuchen, einen Sinn zu legitimieren und zu
rechtfertigen. Eigentlich erzählt er etwas ganz anders, als was er sagt. Er täuscht und ist von
sich selbst getäuscht. Seine Sprache als Rechtfertigung versteckt eine Wahrheit von der er
selber nichts weiß. Ist er dann noch "schuldig"? Es ist klar, dass wir es da mit einer
Logik zu tun haben, die ganz anders ist als die Logik des Kommissars. Am Anfang war der Mord.
Freud erinnert uns in "Totem und Tabu" an den Mythos des Vater-Mords: das Individuum,
das sich in seinen "Fantasien" von der Menge (Masse) abtrennt, um die Wirklichkeit
im Einverständnis mit seinem Begehren wiederherzustellen, und indem die begehrte Rolle
des umgebrachten Vaters von der Horde des Bruders sich herausbildet. Der Mythos trägt eine
parallele Evolution wie das Festigen des Über-Ich und wie die Intensität des Strafbedürfnisses,
unter der Beeinflussung des Schuldgefühls und der Nostalgie des toten Vaters. Den Vater töten,
heißt nicht, ihn zu liquidieren. D. h., ihn noch mehr präsent machen - als Symbol, als Gesetz,
als Tabu. (Bezug auf die zwei Türme in New York vom 11 .09. 01).

Das Thema des Gewissensbisses und das Begehrens diese Untat aufzuheben, erscheinen jetzt stärker 
und stärker neben dem Leitmotiv, der Verwirklichung des Begehrens. Der Applaus des Publikums
bewirkt, dass der Künstler sich aus der Affäre zieht und dass das Publikum ihn
freispricht (ihm verzeiht ). "Ego te absolvo". Das Aristoteles-Prinzip der Katharsis fußt
auf der Tat, dass der Betrachter sich befreit - durch Projektion - von seinem latenten
Schuldgefühl. Bestehen, bekennen, beichten. (avouer, reconnaître, confesser)
Aber man weiß das, auch wenn man die Kunst nicht täuschen kann, so hat man es dennoch
in der Kunst mit Täuschung zu tun: Verfluchter Teil. Schuld als REST - unversöhnlicher
- unlösbarer - unsühnbarer REST: Material der Kunst. Das Böse - die eigene Grausamkeit 
- als einziges Material der Kunst. Und immer wieder gilt es, damit "fertig zu werden".
Die Kunst als Verteidigungs-Stück, als Schutz, als Totem-Funktion. Die Kunst gegen das Verbot.
In einer Bewegung von göttlichem Rausch, Ermunterung und Hindernis gleichzeitig.
Mit dem Teddy-Bär des Kindes wird geschmust und gekämpft. Einer muss die "offene Rechnung"
bezahlen. Die Kunst bewegt sich immerfort um die Zeremonie ihre unmögliche Hochzeit zu
wiederholen: Geisterbeschwörung.
Die FORM finden - mit-styl-stil-Stylo-manieren den-schimpf-SCHANDE,
den-beschimpfungs-schande-TON-finden:
Mit skandiertem-Hammer-die-schleich-schlange-schinder-zu-schlachten Matt!
Wo soll geschüttelt werden? Jetzt ist auch sabbat!
Die Kunst als Flucht-Mittel gegen die Angst: Exorzismus.
Immer zwischen Verehrung und Überschreitung dieser Verehrung, Verstoß. 
VERBOT und ÜBERTRETUNG DES GESETZES - IST BEDINGUNG DES GENIEßENS.

Das Verbot ist notwendig um übertreten zu werden. Das ist seine Funktion. Und größer ist das
Schuldgefühl, größer ist die Spannung - die Energie, die Intensität - um die Libido zu regulieren.
Da entsteht der Einsatz der Kunst. Diese Gesetzes-Überschreitung ist - paradoxerweise - 
ein Verstoß UND eine Hypermoral. Da wird das Kunst-Produkt zu der Angst proportional stark.
Angst als Motor. Proportional stark wird der Einsatz in der Kunst. Totem und Tabu.
Das Böse als Traum des Guten. Das Verbot ist heilig. Überschreitung als hypermoralische Geste.
Hypermoral, die am Ursprung der Herausforderung der Moral ist. Die Tragödie ist auf der Ebene
des religiösen Verbots. D. h., auf der Ebene des Vater-Mords und des Inzest-Gesetzes. 
Der Traum einer heiligen Gewalt. Verhexungs-Zeichen. Eine Gefahr. Da wo der Bruch 
die Entzückung einführt.
Es gibt einen Punkt im Geist - sagt André Breton - wo Leben und Tod, Schmerz und Freude,
Reales und Imaginäres, Vergangenheit und Zukunft nicht mehr konträr sind.
So dass das Böse in dieser Gleichzeitigkeit des Kontrastes kein Oppositions-Prinzip zur
Natur-Ordnung ist: Tod als Bedingung des Leben, als Grund des Seins. Jeden Tag - ein Ritual -  
einen Akt wiederholen - einen Schutz-Akt - gegen die Angst: KUNST ALS PERFEKTER MORD. 

"Mais je ne voudrais perdre aucune souffrance, ni supporter une moindre torture;
Plus l´angoisse supplicie, plus vite elle bénit. Et perdue dans les flammes de l´enfer ou brillant
d´un éclat céleste, Si elle annonce la Mort, la vision est divine».

«Aber ich möchte weder Leiden verlieren, noch eine geringere Qual ertragen;
Je mehr die Angst martert, desto schneller segnet sie. Und verloren in den Flammen
der Hölle oder glitzernt mit einem himmlischen Glanz, wenn Sie den Tod ankündigt, ist die
Vision göttlich". 

«If it but herald Death, the vision is divine»

Extrait de «The prisoner» poème de Emily Bronté.
Gedicht-Auszug «Der Gefangene» von Emily Bronté.